Freitag, 21. Dezember 2012



Eine Geschichte von Stefan Bohlander


- 1 -

Als ich den Turm mietete, ahnte ich noch nichts von dem Schrecken, der in ihm wohnte. Dieser Ostflügel eines alten, verfallenen Schlosses am Rande der Stadt stellte meine Nerven auf eine harte Probe und schob mich an den Rand meiner psychischen Grenzen. Legenden umrankt waren sie, die Steine, welche das Gebäude bildeten und Geschichten von grauenvollen Blutopfern, notgeschlachteten Jungfrauen und hart gesottenen Männern beherbergten, die in einer Nacht mehr Verstand verloren hatten, als sie vor Eintritt in das Gebäude überhaupt besessen hatten. Von Verliesen war die Rede, die auf verschlungenem Wege direkt in die Hölle führten, oder von seltsamen Maschinen, die zur Deformierung menschlicher Körper gebaut wurden.

Nun waren solche Geschichten geradewegs dazu geboren, um von Männern wie mir ins Lächerliche gezogen zu werden. Ich war von der Natur mit einer ungesunden Neugierde ausgestattet und mit einem untrüglichen Sinn für Rationalität gesegnet. Also hielt ich mich selbst für geeignet genug, diesen ominösen Sagen auf den erklärbaren Grund zu gehen. Außerdem suchte ich Stoff für eine neue Erzählung und dachte, dies wäre ein geeigneter Ort, sie zu finden. Da es mir an Geldreserven ebenso wenig mangelte wie an Abenteuerlust, fand ich keinen weiteren Grund, der mich hindern sollte. Der Wirt der Schenke sah dies anders.

„Hüten sie sich vor dem Turm.“


Ruhig und gelassen, leise und bedächtig und mit einem sanften Timbre sprach er diesen Satz aus. Auf meine Frage, warum ich diesem gewiss gut gemeinten Ratschlag eigentlich folgen sollte, erntete ich nur Schweigen von ihm und Blicke der anderen Gäste, die geradewegs in mein Innerstes gelangten. Ich wusste, was sie sagen wollten, ohne dass es laut ausgesprochen werden musste. Ich konnte in ihren Blicken förmlich die Schreie und die anderen Furcht einflößenden Laute lesen, auf die sie mich aufmerksam machen wollten. Laute... Geräusche... Schreie... ich konnte spüren, was sie meinten, ich konnte es aber nicht wissen.

Die Ernsthaftigkeit jedoch, mit der man mir diese Dinge vortrug, ließ einen ersten Keim in mir sprießen; einen Keim der Irrationalität. Doch ich wehrte mich dagegen. Ich wollte nicht wissen ohne Beweise. „Nein, ich sah nichts, doch... diese Laute... hüten sie sich vor den Lauten. Sie alleine reichten aus, unseren Pfarrer vom Glauben abzubringen. Doch war dies nicht das Einzige, was er verlor. Nach seinem Versuch, im Turm zu nächtigen, konnte er nur noch dies sagen, bevor er seinen Verstand einbüßte:

Dunkelheit. Ewige Dunkelheit.“ 


„Nun“, konterte ich, „Dunkelheit ist ein erklärbarer Begriff. Die Erde wandert aus der Sonnenstrahlung heraus und verbleibt weniger hell. Sie kühlt ab. Diese beiden Attribute, Dunkelheit und Kälte, werden von uns mit dem Negativen assoziiert. Wovor sich also ängstigen, wenn es der Geist ist, der sich selbst etwas vorgaukelt? Jeder kann sich doch aussuchen, ob er sich im Hellen oder im Dunklen wohl oder unwohl fühlt. Weibergeschwätz!“ Mehr wollte oder konnte nun auch der Wirt nicht mehr sagen: „Hüten Sie sich vor der Dunkelheit.“

- 2 -

Nachdem ich das schwere Schloss mit dem passenden Schlüssel bezwungen hatte, öffnete ich die Tür. Es knarrte – natürlich. Vermutlich hatten sich ganze Generationen von Geschichtenerzählern durch makabre und horrible Geschichten vom Ölen abhalten lassen. Ein kalter Luftzug streifte mein Gesicht. Vermutlich eine Ritze in der brüchigen Mauer, hervorgerufen durch natürliche Erosion. Ein schwerer, dumpfer Hall legte sich auf den Raum, welchen ich soeben betreten hatte. Hervorgerufen durch meine Ledersohlen, die hart auf das alte Mauerwerk trafen. Sollte sich durch solch simple Dinge etwa die Panik meiner bemächtigen? Ich schaute mich um. Kandelaber an der Decke kontrastierten mit alten, abgebrannten Fackeln an den Wänden, welche spinnwebverhangen als Zeuge einer vergangenen Zeit dienten. Hier fehlte ein Stück in der Mauer, dort wühlte sich ein Riss durch den Boden.

Eine seltsame Stimmung breitete sich in meinem Inneren aus – Belustigung.


Ich hatte nun schon so oft von diesen rein der Atmosphäre dienenden Dingen gehört, dass ich sie eigentlich nur noch als Klischee wahrnahm und nicht als etwas reales und mich umgebendes. Ich schmunzelte kurz, wurde jedoch von einem plötzlich auftretenden Schlag abgelenkt, den ich nur gedämpft wahrnehmen konnte. Da es sich höchstwahrscheinlich nur um den kleinen Vorboten eines großen Gewitters handelte, verharrte ich nicht lange in der angespannten Stellung, die ich kurz eingenommen hatte. Stattdessen lief ich weiter, denn um zu dem Turm zu gelangen, musste ich den Saal noch komplett durchqueren, eine weitere schwere Eichentür hinter mir lassen und eine enge Wendeltreppe hinaufsteigen.

- 3 -

Als ich die brüchigen Stufen hinter mir hatte und danach eine etwas kleinere Tür als die vorherige aufschloss, hörte ich erneut einen Schlag, ebenso dumpf, doch scheinbar nicht mehr ganz so weit weg wie der erste. Ich hielt die Laterne, welche ich mir eher praktischer-, als vorsichtshalber mitgenommen hatte, vor mich hin und leuchtete damit in das Innere des Turmes, welcher aus einem Raum bestand. Ich sah eine zerbrochene, eingestürzte und durchlöcherte Decke und diverse Fenster mit Blick in alle möglichen Himmelsrichtungen. Pilze wucherten auf den Steinen und Schimmel schließlich versetzte die Luft mit seinem Geruch.

Es waren Zeichen des Verfalls und zu hoher Feuchtigkeit.


Ich fragte mich, wo ich mich zur Ruhe begeben sollte und wählte einen Platz aus, der noch nicht ganz dem freien Himmel übergeben war. Ich kam mir vor wie in einem fremden Land, welches sich mit sich selbst im Krieg befand und in der die Kälte an der Macht war. Ich war nur ein geduldeter Außenseiter, der sich anmaß, inmitten von Verwüstung und Chaos zu nächtigen. Plötzlich fühlte ich mich auf seltsame Art schuldig; grundlos und irrational. Dies jedoch versuchte ich in dem Moment abzuschütteln, in dem ich mein Bettzeug enthüllte und auf den kalten Boden ausbreitete. Als nächstes klaubte ich verwittertes Holz zusammen, welches ich zufällig fand. Wahrscheinlich hatte es der Wind hinauf getragen. Plötzlich ein Wimmern.

Ich schreckte auf – kurz – und hielt den Schein der Laterne in die Höhe. Langsam wanderte ich damit von links nach rechts, doch konnte nichts anderes erkennen als die Mauern des Turmes, welche mich gleichzeitig einschlossen und dennoch die Möglichkeit zur Flucht boten. Aber ich wollte doch überhaupt nicht entkommen. Wovor auch? Ich entfachte Feuer und wärmte mich eine kleine Weile daran. Durch meinen Kopf huschten wohl sortierte Gedanken wie etwa der, dass ich den Turm für unbestimmte Zeit gemietet hatte, wohl aber drei Tage im Voraus bezahlen musste. Vermutlich wegen der Angst, ich könnte nicht wiederkehren. Armselige Abergläubige! Ich machte mir Vorstellungen, dass sie wohl weniger Angst wegen der Tatsache hatten, dass ich tot wäre, als wegen der Tatsache, dass sie so Geldeinbußen hätten.

Ich überlegte, wovon meine Erzählung handeln könnte und harrte der Inspiration. Noch wollte mich nichts auf kreative Weise beeinflussen und weder die knarrende Tür noch der wehende (und manchmal seltsam aufheulende) Wind versetzten mich in eine solche innere Spannung, als dass ich davon hätte zehren können.

Dann ein Schatten. Hatte er sich bewegt?


Nur ein Hirngespinst redete ich mir ein. Ich bewegte meine Hand und brach damit das Licht des Feuers, worauf sich auch seltsame Schattenspiele ergaben. Einmal mehr also kein Grund zur Aufregung. Ich führte weiter die Gedanken um meine Inspiration fort und dachte an ein historisches Werk, bemerkte aber rechtzeitig, dass ich daran selbst gar nicht genug interessiert war, so dass ich diesen Gedanken schon verwerfen konnte. Wie wäre es mit der Geschichte eines umherziehenden Hofnarren? Ich musste mir eingestehen, dass die allzu offensichtliche Komik nicht eben zu meinen Stärken gehörte. Dann bemerkte ich ein weiteres seltsames Schattenspiel und dies setzte in mir den Gedanken an eine Geistergeschichte frei. Noch ein Schatten!

Und diesmal hatte ich etwas gesehen, daran konnte kein Zweifel bestehen. Aber was war es, was mein Auge da erblicken musste? Einen Moment lang fragte ich mich selbst, ob ich es denn wirklich wissen wollte, rief mir dann aber ins Gedächtnis, das ich ja wohl neugierig war. Oder? Nochmals ein Wimmern. Ich horchte auf, diesmal länger. Dann gab es einen Windstoß und ich könnte schwören, auch wenn dies ja nicht zu den greifbaren Dingen gehört, dass der Wind meinen Namen flüsterte! Ich muss gestehen, dass in diesem Moment der Schrecken eine Zuflucht in meinen Gedanken fand.

Ein dumpfes, krachendes „Du!“ ertönte und plötzlich verspürte ich eine Schuld in mir aufsteigen, welche sich tief in mir abspielte und dennoch absolut irrational war.

Hatte ich etwa wahrhaftig verbotenes Terrain betreten?


Gleichzeitig brachen alte Erinnerungen hervor, vermischten sich mit verborgenen Schuldgefühlen und lösten sich abwechselnd in Wohlgefallen und Unendlichkeit auf. Ein Lachen ertönte hell und tief gleichzeitig. Eine Tür knarrte, welche es doch überhaupt nicht gab und ein Stein fiel herab, der gar nicht locker war. Dem folgte ein weiterer Windstoß, der sich von einem Winkel meines Hirnes den Vorwurf gefallen lassen musste, das er alleine verantwortlich dafür war, das mein kleines Feuer erlosch. Ein umherfliegender Stein traf meine Lampe und brachte das Glas zum Splittern. Ich schaute mich um, doch konnte nur das erkennen, was eine Stimme im Wind seufzend hervorbrachte : „Dunkelheit.“

- 4 -

Stille herrschte vor neben der Finsternis, die ich obskurerweise dadurch noch verstärkte, das ich meine Augen verschlossen hielt. Dies schrieb ich einem alten Menschheitsinstinkt zu. Doch was brachte er mir, dieser Instinkt ? Langsam fühlte ich, das ich dem nicht entkommen konnte, was um mich herum vor sich ging. Ich konnte nur alles seinen unnatürlichen Gang nehmen lassen und nannte es einen schrecklichen Gedanken. Ich beschloss völlig rational meine Augen nun zu öffnen und erkannte noch immer nichts. Noch immer herrschte das vor, wovor mich der Wirt doch gewarnt hatte: Dunkelheit.

Seltsamerweise spürte ich, das irgendetwas bei mir war – über mir – und mich scheinbar belauerte. Ich konnte irgendetwas nach mir schnappen spüren und ein seltsamer Druck nahm Platz auf meinem Herzen, worauf es wild zu rasen begann. Schweiß bedeckte meine Stirn und breitete sich anschließend auf meinem gesamten Körper aus. Dann ein Geräusch. Der Widerhall meines Herzschlages. Echo an den Wänden. Hin und her und auf und ab. Ein Stein fiel aus der Mauer und ein kleiner Lichtstrahl schien auf das, was über mir schwebte. Nichts sehnlicher wünschte ich mir in diesem Augenblick als das der Stein doch bitte wieder auf seinen Platz zurückkehren würde.

Was ich sah, war ein Auge.


Abwiegend starrte es mich an; riesig, kalt und abweisend. Ich verspürte Angst, Furcht, Entsetzen und Ekel. Als nächstes flackerte meine Lampe kurz auf und mein Lagerfeuer entfachte sich von alleine. Über mir schwebte ein riesiger Vogel. Den Durchmesser des Turmes beinahe erreichend schien er einfach nur dort zu hängen und abzuwarten. Aber auf was? Er besaß jene Form, die auch den Adler dazu bestimmte, majestätisch auszusehen, jedoch auf eine weit grausamere Art. Dann öffnete er seinen Schnabel und entlockte seiner stinkenden Kehle einen dermaßen widerlichen Gestank, dass ich mich am liebsten auf der Stelle übergeben hätte. Doch dazu war ich zu gelähmt. Er entblößte Reißzähne und gedachte, mit ihnen nach mir zu schnappen.

Ich stellte mir vor, wie er damit immer und immer wieder auf mich einhacken würde. Er riss mir die Haut in Fetzen und brach meine Knochen, während seine seltsam trockene Zunge mein kostbares Blut kostete. Er zerstörte meinen Thorax, zerschnitt meine Glieder, trennte sie ab und warf sie durch die Luft. Dann schlug es ein Uhr. Ich sah an mir herab, bemerkte das alles dort war, wo es auch hingehörte und wimmerte ein wenig vor mich hin. Ich war durchnässt von Schweiß und anderen flüssigen Absonderungen der Angst, fühlte mich aber auf komische Art von etwas befreit, worauf ich lauthals anfangen musste, zu lachen.

- 5 -

Ich musste zurückdenken an die warnenden Worte des Wirts und sofort nach meiner ziemlich hastigen Abreise von diesem vermaledeiten Turm kehrte ich einmal mehr bei ihm ein, um ihm von meinem Erlebnis zu berichten und von meiner neu gefassten Meinung, das es weitaus mehr auf unserem Planeten gab, als man erklären konnte. Ich hatte mir vorgestellt, wie er mich von oben herab belächeln würde, oder gar arrogant sein Wissen und seine Erfahrungen auf mich abladen würde, doch ich hätte es besser wissen sollen, denn nichts davon geschah. Stattdessen sprach er einmal mehr mit dieser leisen, sanften und bedächtigen Stimme, nachdem er mir einen Spiegel in die Hand gegeben hatte.

„Schauen Sie sich Ihre Haare an.“ Sie waren schlohweiß.


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