Freitag, 21. Dezember 2012



Eine Geschichte von Stefan Bohlander


- 1 -

Als ich den Turm mietete, ahnte ich noch nichts von dem Schrecken, der in ihm wohnte. Dieser Ostflügel eines alten, verfallenen Schlosses am Rande der Stadt stellte meine Nerven auf eine harte Probe und schob mich an den Rand meiner psychischen Grenzen. Legenden umrankt waren sie, die Steine, welche das Gebäude bildeten und Geschichten von grauenvollen Blutopfern, notgeschlachteten Jungfrauen und hart gesottenen Männern beherbergten, die in einer Nacht mehr Verstand verloren hatten, als sie vor Eintritt in das Gebäude überhaupt besessen hatten. Von Verliesen war die Rede, die auf verschlungenem Wege direkt in die Hölle führten, oder von seltsamen Maschinen, die zur Deformierung menschlicher Körper gebaut wurden.

Nun waren solche Geschichten geradewegs dazu geboren, um von Männern wie mir ins Lächerliche gezogen zu werden. Ich war von der Natur mit einer ungesunden Neugierde ausgestattet und mit einem untrüglichen Sinn für Rationalität gesegnet. Also hielt ich mich selbst für geeignet genug, diesen ominösen Sagen auf den erklärbaren Grund zu gehen. Außerdem suchte ich Stoff für eine neue Erzählung und dachte, dies wäre ein geeigneter Ort, sie zu finden. Da es mir an Geldreserven ebenso wenig mangelte wie an Abenteuerlust, fand ich keinen weiteren Grund, der mich hindern sollte. Der Wirt der Schenke sah dies anders.

„Hüten sie sich vor dem Turm.“


Ruhig und gelassen, leise und bedächtig und mit einem sanften Timbre sprach er diesen Satz aus. Auf meine Frage, warum ich diesem gewiss gut gemeinten Ratschlag eigentlich folgen sollte, erntete ich nur Schweigen von ihm und Blicke der anderen Gäste, die geradewegs in mein Innerstes gelangten. Ich wusste, was sie sagen wollten, ohne dass es laut ausgesprochen werden musste. Ich konnte in ihren Blicken förmlich die Schreie und die anderen Furcht einflößenden Laute lesen, auf die sie mich aufmerksam machen wollten. Laute... Geräusche... Schreie... ich konnte spüren, was sie meinten, ich konnte es aber nicht wissen.

Die Ernsthaftigkeit jedoch, mit der man mir diese Dinge vortrug, ließ einen ersten Keim in mir sprießen; einen Keim der Irrationalität. Doch ich wehrte mich dagegen. Ich wollte nicht wissen ohne Beweise. „Nein, ich sah nichts, doch... diese Laute... hüten sie sich vor den Lauten. Sie alleine reichten aus, unseren Pfarrer vom Glauben abzubringen. Doch war dies nicht das Einzige, was er verlor. Nach seinem Versuch, im Turm zu nächtigen, konnte er nur noch dies sagen, bevor er seinen Verstand einbüßte:

Dunkelheit. Ewige Dunkelheit.“ 


„Nun“, konterte ich, „Dunkelheit ist ein erklärbarer Begriff. Die Erde wandert aus der Sonnenstrahlung heraus und verbleibt weniger hell. Sie kühlt ab. Diese beiden Attribute, Dunkelheit und Kälte, werden von uns mit dem Negativen assoziiert. Wovor sich also ängstigen, wenn es der Geist ist, der sich selbst etwas vorgaukelt? Jeder kann sich doch aussuchen, ob er sich im Hellen oder im Dunklen wohl oder unwohl fühlt. Weibergeschwätz!“ Mehr wollte oder konnte nun auch der Wirt nicht mehr sagen: „Hüten Sie sich vor der Dunkelheit.“

- 2 -

Nachdem ich das schwere Schloss mit dem passenden Schlüssel bezwungen hatte, öffnete ich die Tür. Es knarrte – natürlich. Vermutlich hatten sich ganze Generationen von Geschichtenerzählern durch makabre und horrible Geschichten vom Ölen abhalten lassen. Ein kalter Luftzug streifte mein Gesicht. Vermutlich eine Ritze in der brüchigen Mauer, hervorgerufen durch natürliche Erosion. Ein schwerer, dumpfer Hall legte sich auf den Raum, welchen ich soeben betreten hatte. Hervorgerufen durch meine Ledersohlen, die hart auf das alte Mauerwerk trafen. Sollte sich durch solch simple Dinge etwa die Panik meiner bemächtigen? Ich schaute mich um. Kandelaber an der Decke kontrastierten mit alten, abgebrannten Fackeln an den Wänden, welche spinnwebverhangen als Zeuge einer vergangenen Zeit dienten. Hier fehlte ein Stück in der Mauer, dort wühlte sich ein Riss durch den Boden.

Eine seltsame Stimmung breitete sich in meinem Inneren aus – Belustigung.


Ich hatte nun schon so oft von diesen rein der Atmosphäre dienenden Dingen gehört, dass ich sie eigentlich nur noch als Klischee wahrnahm und nicht als etwas reales und mich umgebendes. Ich schmunzelte kurz, wurde jedoch von einem plötzlich auftretenden Schlag abgelenkt, den ich nur gedämpft wahrnehmen konnte. Da es sich höchstwahrscheinlich nur um den kleinen Vorboten eines großen Gewitters handelte, verharrte ich nicht lange in der angespannten Stellung, die ich kurz eingenommen hatte. Stattdessen lief ich weiter, denn um zu dem Turm zu gelangen, musste ich den Saal noch komplett durchqueren, eine weitere schwere Eichentür hinter mir lassen und eine enge Wendeltreppe hinaufsteigen.

- 3 -

Als ich die brüchigen Stufen hinter mir hatte und danach eine etwas kleinere Tür als die vorherige aufschloss, hörte ich erneut einen Schlag, ebenso dumpf, doch scheinbar nicht mehr ganz so weit weg wie der erste. Ich hielt die Laterne, welche ich mir eher praktischer-, als vorsichtshalber mitgenommen hatte, vor mich hin und leuchtete damit in das Innere des Turmes, welcher aus einem Raum bestand. Ich sah eine zerbrochene, eingestürzte und durchlöcherte Decke und diverse Fenster mit Blick in alle möglichen Himmelsrichtungen. Pilze wucherten auf den Steinen und Schimmel schließlich versetzte die Luft mit seinem Geruch.

Es waren Zeichen des Verfalls und zu hoher Feuchtigkeit.


Ich fragte mich, wo ich mich zur Ruhe begeben sollte und wählte einen Platz aus, der noch nicht ganz dem freien Himmel übergeben war. Ich kam mir vor wie in einem fremden Land, welches sich mit sich selbst im Krieg befand und in der die Kälte an der Macht war. Ich war nur ein geduldeter Außenseiter, der sich anmaß, inmitten von Verwüstung und Chaos zu nächtigen. Plötzlich fühlte ich mich auf seltsame Art schuldig; grundlos und irrational. Dies jedoch versuchte ich in dem Moment abzuschütteln, in dem ich mein Bettzeug enthüllte und auf den kalten Boden ausbreitete. Als nächstes klaubte ich verwittertes Holz zusammen, welches ich zufällig fand. Wahrscheinlich hatte es der Wind hinauf getragen. Plötzlich ein Wimmern.

Ich schreckte auf – kurz – und hielt den Schein der Laterne in die Höhe. Langsam wanderte ich damit von links nach rechts, doch konnte nichts anderes erkennen als die Mauern des Turmes, welche mich gleichzeitig einschlossen und dennoch die Möglichkeit zur Flucht boten. Aber ich wollte doch überhaupt nicht entkommen. Wovor auch? Ich entfachte Feuer und wärmte mich eine kleine Weile daran. Durch meinen Kopf huschten wohl sortierte Gedanken wie etwa der, dass ich den Turm für unbestimmte Zeit gemietet hatte, wohl aber drei Tage im Voraus bezahlen musste. Vermutlich wegen der Angst, ich könnte nicht wiederkehren. Armselige Abergläubige! Ich machte mir Vorstellungen, dass sie wohl weniger Angst wegen der Tatsache hatten, dass ich tot wäre, als wegen der Tatsache, dass sie so Geldeinbußen hätten.

Ich überlegte, wovon meine Erzählung handeln könnte und harrte der Inspiration. Noch wollte mich nichts auf kreative Weise beeinflussen und weder die knarrende Tür noch der wehende (und manchmal seltsam aufheulende) Wind versetzten mich in eine solche innere Spannung, als dass ich davon hätte zehren können.

Dann ein Schatten. Hatte er sich bewegt?


Nur ein Hirngespinst redete ich mir ein. Ich bewegte meine Hand und brach damit das Licht des Feuers, worauf sich auch seltsame Schattenspiele ergaben. Einmal mehr also kein Grund zur Aufregung. Ich führte weiter die Gedanken um meine Inspiration fort und dachte an ein historisches Werk, bemerkte aber rechtzeitig, dass ich daran selbst gar nicht genug interessiert war, so dass ich diesen Gedanken schon verwerfen konnte. Wie wäre es mit der Geschichte eines umherziehenden Hofnarren? Ich musste mir eingestehen, dass die allzu offensichtliche Komik nicht eben zu meinen Stärken gehörte. Dann bemerkte ich ein weiteres seltsames Schattenspiel und dies setzte in mir den Gedanken an eine Geistergeschichte frei. Noch ein Schatten!

Und diesmal hatte ich etwas gesehen, daran konnte kein Zweifel bestehen. Aber was war es, was mein Auge da erblicken musste? Einen Moment lang fragte ich mich selbst, ob ich es denn wirklich wissen wollte, rief mir dann aber ins Gedächtnis, das ich ja wohl neugierig war. Oder? Nochmals ein Wimmern. Ich horchte auf, diesmal länger. Dann gab es einen Windstoß und ich könnte schwören, auch wenn dies ja nicht zu den greifbaren Dingen gehört, dass der Wind meinen Namen flüsterte! Ich muss gestehen, dass in diesem Moment der Schrecken eine Zuflucht in meinen Gedanken fand.

Ein dumpfes, krachendes „Du!“ ertönte und plötzlich verspürte ich eine Schuld in mir aufsteigen, welche sich tief in mir abspielte und dennoch absolut irrational war.

Hatte ich etwa wahrhaftig verbotenes Terrain betreten?


Gleichzeitig brachen alte Erinnerungen hervor, vermischten sich mit verborgenen Schuldgefühlen und lösten sich abwechselnd in Wohlgefallen und Unendlichkeit auf. Ein Lachen ertönte hell und tief gleichzeitig. Eine Tür knarrte, welche es doch überhaupt nicht gab und ein Stein fiel herab, der gar nicht locker war. Dem folgte ein weiterer Windstoß, der sich von einem Winkel meines Hirnes den Vorwurf gefallen lassen musste, das er alleine verantwortlich dafür war, das mein kleines Feuer erlosch. Ein umherfliegender Stein traf meine Lampe und brachte das Glas zum Splittern. Ich schaute mich um, doch konnte nur das erkennen, was eine Stimme im Wind seufzend hervorbrachte : „Dunkelheit.“

- 4 -

Stille herrschte vor neben der Finsternis, die ich obskurerweise dadurch noch verstärkte, das ich meine Augen verschlossen hielt. Dies schrieb ich einem alten Menschheitsinstinkt zu. Doch was brachte er mir, dieser Instinkt ? Langsam fühlte ich, das ich dem nicht entkommen konnte, was um mich herum vor sich ging. Ich konnte nur alles seinen unnatürlichen Gang nehmen lassen und nannte es einen schrecklichen Gedanken. Ich beschloss völlig rational meine Augen nun zu öffnen und erkannte noch immer nichts. Noch immer herrschte das vor, wovor mich der Wirt doch gewarnt hatte: Dunkelheit.

Seltsamerweise spürte ich, das irgendetwas bei mir war – über mir – und mich scheinbar belauerte. Ich konnte irgendetwas nach mir schnappen spüren und ein seltsamer Druck nahm Platz auf meinem Herzen, worauf es wild zu rasen begann. Schweiß bedeckte meine Stirn und breitete sich anschließend auf meinem gesamten Körper aus. Dann ein Geräusch. Der Widerhall meines Herzschlages. Echo an den Wänden. Hin und her und auf und ab. Ein Stein fiel aus der Mauer und ein kleiner Lichtstrahl schien auf das, was über mir schwebte. Nichts sehnlicher wünschte ich mir in diesem Augenblick als das der Stein doch bitte wieder auf seinen Platz zurückkehren würde.

Was ich sah, war ein Auge.


Abwiegend starrte es mich an; riesig, kalt und abweisend. Ich verspürte Angst, Furcht, Entsetzen und Ekel. Als nächstes flackerte meine Lampe kurz auf und mein Lagerfeuer entfachte sich von alleine. Über mir schwebte ein riesiger Vogel. Den Durchmesser des Turmes beinahe erreichend schien er einfach nur dort zu hängen und abzuwarten. Aber auf was? Er besaß jene Form, die auch den Adler dazu bestimmte, majestätisch auszusehen, jedoch auf eine weit grausamere Art. Dann öffnete er seinen Schnabel und entlockte seiner stinkenden Kehle einen dermaßen widerlichen Gestank, dass ich mich am liebsten auf der Stelle übergeben hätte. Doch dazu war ich zu gelähmt. Er entblößte Reißzähne und gedachte, mit ihnen nach mir zu schnappen.

Ich stellte mir vor, wie er damit immer und immer wieder auf mich einhacken würde. Er riss mir die Haut in Fetzen und brach meine Knochen, während seine seltsam trockene Zunge mein kostbares Blut kostete. Er zerstörte meinen Thorax, zerschnitt meine Glieder, trennte sie ab und warf sie durch die Luft. Dann schlug es ein Uhr. Ich sah an mir herab, bemerkte das alles dort war, wo es auch hingehörte und wimmerte ein wenig vor mich hin. Ich war durchnässt von Schweiß und anderen flüssigen Absonderungen der Angst, fühlte mich aber auf komische Art von etwas befreit, worauf ich lauthals anfangen musste, zu lachen.

- 5 -

Ich musste zurückdenken an die warnenden Worte des Wirts und sofort nach meiner ziemlich hastigen Abreise von diesem vermaledeiten Turm kehrte ich einmal mehr bei ihm ein, um ihm von meinem Erlebnis zu berichten und von meiner neu gefassten Meinung, das es weitaus mehr auf unserem Planeten gab, als man erklären konnte. Ich hatte mir vorgestellt, wie er mich von oben herab belächeln würde, oder gar arrogant sein Wissen und seine Erfahrungen auf mich abladen würde, doch ich hätte es besser wissen sollen, denn nichts davon geschah. Stattdessen sprach er einmal mehr mit dieser leisen, sanften und bedächtigen Stimme, nachdem er mir einen Spiegel in die Hand gegeben hatte.

„Schauen Sie sich Ihre Haare an.“ Sie waren schlohweiß.



Eine Glosse von Stefan Bohlander



Im Ostchinesischen Meer ist ein Streit zwischen China und Japan um die unbewohnte Senkaku-Inselgruppe eskaliert, als japanische Aktivisten dort die Flagge ihres Landes hissten. In chinesischen Städten gingen Demonstranten auf die Straße und beschädigten japanische Geschäfte und Fahrzeuge. Zum Glück konnten sich die streitenden Parteien darauf verständigen, weitere Handgreiflichkeiten auszulassen. Die um Zurückhaltung bemühten Japaner verabschiedeten ein Wirtschafts-Embargo: 

Die Ausfuhr von pornografischen Mangas an China wurde sofort gestoppt. 

Die chinesische Regierung versuchte sich an der letzten Möglichkeit der Deeskalation. Bei einer Partie Mahjongg wurde um das Gebiet gespielt. Die Chinesen hatten jedoch das dazu benötigte Facebook-Spiel sperren lassen. „Tragen wir’s wie Männer auf dem Platz aus“, meinte Japan und schickte die WM-Heldinnen von 2011 in das Land des Lächelns. Die UNO hatte mittlerweile von der Sache Wind bekommen und schickte einen Sondergesandten, der die Beteiligten bei einer Teezeremonie beschwichtigen sollte. Dummerweise ging bei einem hinterhältigen Einsatz von Grünem Tee eine Jahrhunderte alte Ming-Vase zu Bruch.

Die Terrorgruppe „Lächelnde Sonne“ veröffentlichte daraufhin Videos, in denen Pokemons mit der chinesischen Wasserfolter malträtiert wurden 

Einer Schwadron Kung-Fu-Pandas schickte Japan mutierte Schmetterlinge aus Fukushima entgegen. Dem Einsatz von Shaolin-Mönchen entgegnete Japan mit einer schnellen Eingreiftruppe, angeführt vom klempnernden Brüderpaar Mario Bros. Als Japan als letztes Mittel der Diplomatie Godzilla in Richtung chinesischer Großstädte schickte, mischten sich die USA ein. Diese beanspruchen die Senkaku-Inselgruppe nun für sich. 

Bei den Inseln werden übrigens große Ölvorkommen vermutet.   


Ein Wunsch von Stefan Bohlander


Okay, „Gandhi“ ist ein netter Film. Ein freundlich lächelnder Hauptdarsteller, eine nette Botschaft, Tausende von Menschen. Aber mal ehrlich – ein Kahlköpfiger als Sympathieträger? Brad Pitt hatte als „böser“ Tyler Durden in „Fight Club“ eine Glatze genau wie einige der Blofelds in den James-Bond-Filmen. Außerdem ähneln sie Neugeborenen und haben überhaupt nichts mit dem Bild eines Sexsymbols gemein, welches uns Hollywood in jahrelanger Kleinarbeit eingeredet hat.


Deswegen: vergessen wir für einen Moment die paar gewonnenen Oscars für „Gandhi“ und wagen uns an eine Neuverfilmung.

In der Hauptrolle wünsche ich mir ein verbrauchtes Gesicht wie das von Keanu Reeves. Wandlungsfähig wie er nun mal bis zum kleinsten Fußnagel ist, sollte er die mehr als faire Chance bekommen, in diesem Werk mitzuwirken. Es lässt sich natürlich mit dem seit einigen Jahren kursierenden Realitätssinn in Hollywood nicht mehr vereinbaren, dass Gandhi ein unbeflecktes, reines Blatt Papier ist. Das müssen wir ändern. Wie jeder Mensch muss auch Mahatma dunkle Seite haben. Diese können in diversen indischen Bordellen glaubhaft dargestellt werden, die er besucht und in deren Nebenzimmern er sich gerne mal mit der Knute züchtigen lässt. Der Satz „Ich war ein böser Junge“ erhält aus Gandhis Mund eine völlig neue Seite. Besonders wenn er sie durch eine SM-Maske spricht.

Außerdem braucht Gandhi coole Spitznamen. „Big M“ oder „G-Spot“.

Auch der Gebrauch des weißen Kleids muss entsprechend Hollywoods Kriterien der neuen Menschlichkeit wegfallen oder zumindest eingeschränkt werden. Viel besser wäre ein schwarzer Anzug. Schließlich trägt dieser Mann viel Trauer um die Welt in sich. Und da in Indien öfter mal die Sonne scheint, muss die obligatorische Sonnenbrille her.

Ausweiten müsste man „Gandhi“ übrigens in eine Trilogie. Wobei der gewaltlose Kampf gegen britische Armeen nicht mehr gewaltlos ablaufen dürfte. Nennen wir es künstlerische Freiheit. Mahatma müsste in „Gandhi Reloaded“ eine ähnlich motivierende Rede halten wie Mel Gibson in „Braveheart“. Die Kampfszenen sollten schnell geschnitten und die Revoluzzer mit tollen Waffen ausgestattet sein. Für komische Momente könnte eine Art Prinz Charles dienen, der aufständige Inder mit seinen Ohren totwedelt.
Gegen Ende von „Gandhi Reloaded“ müsste Gandhi selbst dann einem inneren Kampf erliegen, der ihn an Gott und anderen heiligen Kühen zweifeln lässt.

So ist der Weg zum dritten Teil – „Gandhi Revolutions“ – geebnet. 

Darin begegnet er dem Architekten des „Taj Mahal“, der ihm bescheinigt, dass Liebe ihn ruiniert hat. Er ist nun erleuchtet, kennt den wahren Weg, eben den gewaltlosen – na ja, ein paar Kämpfe müssen den Zuschauer schon noch wach halten – und ist bereit, in einer nicht enden wollenden Todesszene, die etwa eine Stunde dauert (ein paar Oscars wollen wir ja auch) sein eigenes Nirwana zu finden. Der Mann ist tot, der Zuschauer verlässt ergriffen den Saal, die Millionen fließen und die wichtigsten Preise sind den Produzenten sicher.

So macht man großes Kino!

(Foto/s: Columbia/Warner)


Eine Geschichte von Stefan Bohlander


Ich brauche Dich nur kurz zu mustern, um einzuschätzen, dass Du voller abstruser Ideen steckst. Wenn ich Dich anschaue, dann weiß ich, dass hinter Deiner Fassade mehr steckt, als Du selbst ahnst. Doch Du schottest Dich ab, ziehst Dich zurück, sobald man Dir nahe kommt. Hältst Deine eisige Mauer, die Deine Vergangenheit repräsentiert, für undurchdringbar. Mit Steinen, die Du gerne aus Härte gebaut hättest,  Und ich kleiner Wicht stehe nun hier und klopfe an. Habe die Frechheit zu bemerken, dass gar niemand zu Hause sein will.


Doch mein perfider Gefolgsmann und ich haben Dich durchschaut. 

Wir haben ihn bemerkt, diesen Schatten aus Leben, der sich versteckt hinter diesem Gerüst aus Anti-Leben-Materie. Du verleugnest Deine Fähigkeiten, um Dein Geheimnis ja für Dich zu behalten. Hast Du das wirklich nötig? Dein Geheimnis für Dich zu behalten?

Anstatt es mit jemandem zu teilen, von dem Du die leise Ahnung hast, dass er Dich wert ist, läufst Du davon und machst so, als würde sich ja eh keiner um Dich kümmern. Und kaum denkt jemand daran, sich für Deine inneren Werte zu interessieren, läufst Du wieder davon. 


Na, dann: Lauf, mein Kind, und hör nicht auf damit, Dich umzudrehen!

Sonst bemerkst Du am Ende noch, dass sich doch jemand um Dich kümmert. Ja, lauf! Aber denke nicht, ich würde es nicht schaffen, Dich zu öffnen. Denke nicht, ich hätte nicht die Kraft dazu, Dein Bollwerk aus fehlgeleiteten Informationen aufzubrechen, als sei es das Leichteste, was ich je vollbracht hätte. Denke nicht, ich könnte nicht die Urkraft sein, die Dir fehlt, um Deine Wunden wieder aufleben zu lassen. Denke nicht, ich wäre unfähig zu erkennen, dass Du eigentlich willst, dass Dir jemand weh tut.


Und ich werde Dir wehtun. Oh, ich werde sie niederreißen, Deine Mauer.

Langsam zuerst. Nur aus Rissen bestehend, die von der Erosion Deiner Gedanken verursacht werden, werden Spalten zu sehen sein. Doch irgendwann werden sie zu solch einer Überzahl gelangt sein, dass sie unmöglich all Deine Last tragen können. Ich werde die Kraft sein, die Dich sprengt, um Dich wieder aufzubauen. Der, der Dich rein macht, damit Du wieder schmutzig werden kannst. Ja, der Schmutz, der sich an Dir reibt und den Du wie nichts vorher sonst fühlen wirst.


Und was wird das für ein Gefühl sein, wieder zu fühlen!

Eine Geschichte von Stefan Bohlander

Ich sah dies Wesen zum ersten Mal nach einer durchzechten Nacht mit meinem Saufkumpan Barney. Ganz wie es unsere Angewohnheit war, hatten wir wesentlich mehr getrunken, als es uns hätte lieb sein dürfen. Wir liefen eine Straße entlang, die sich seltsam vor uns krümmte. Wir waren sehr bemüht, die vorbeieilenden Passanten nicht allzu sehr dadurch aufzuhalten, dass wir im Prinzip den Bürgersteig entlang krabbelten. Dies nahmen wir aber nicht als Zeichen der Demütigung. Ganz im Gegenteil waren wir davon überzeugt, dass echte Kerle ihren Heimweg immer finden würden! 

Irgendwann sagte ich dann etwas total ernstes zu Barney, woraufhin er aufs Lustigste drauf los lachte. Ich kann mich nicht mehr ersinnen, was genau es war, jedoch scheint es mir im Nachhinein die Weltformel gewesen zu sein. Schade, dass ich’s vergessen habe. An einer Laterne machten wir halt und übergaben uns erst einmal ordentlich in den Kanal der Bruderschaft der schwarzen Gütersloher. Als wir wieder halbwegs geradeaus blicken konnten, tat sich der Himmel auf und ich könnte schwören, auch wenn Barney dies mit aller Vehemenz des Leugnenden abstreiten wird, dass ich einen Engelschor singen hörte. Es gab einen kurzen Lichtblitz und irgendetwas fiel ziemlich unsanft zu Boden, blieb kurz dort liegen, fing an zu weinen und sah mich dann an. 

Es war ein liebreizendes Geschöpf, dessen Züge von keinem surrealistischen Maler irgendwie entfremdet hätten werden dürfen. 

Liebreizend die Augen, liebreizend die Stirn, liebreizend das wallende Haar und nicht minder liebreizend die vollen, schmackhaften Brüste, welche einladend aus dem wegen der Tränen durchnässten Kleidchen hervorlugten. Ich schleckte mit meiner Zunge kurz über meine Lippen und sah sie mit einem Blick an, der meine Wollust nur schwerlich verbergen konnte. Ich bin Angelina, stellte sie sich mit der liebreizendsten Stimme vor, ich bin Dein Schutzengel und wurde gesandt, um Dich vor den Konsequenzen zu warnen, die Dich heimsuchen werden.“

Óñ§½Î³“, erwiderte ich, was in nüchternem Zustand „Engelchen“ entsprochen hätte, so wie ich sie ab jetzt nennen würde. „Dein Alkoholkonsum nimmt gefährliche Ausmaße an, also höre auf meine Stimme. Du musst ihn einschränken, sonst wird Dein Leben in unsanfte Bahnen gestoßen.“ Dies alles sprach sie mit liebreizender Sanftmut aus, welche sich ziemlich positiv auf meine wahren Gefühle auswirkten. Meine Hose verbarg dies jedoch. Ich wollte sie gerade auf meine altbekannte Art begrüßen und sie mir ordentlich zur Brust nehmen, als sie genauso verschwand, wie sie erschienen war. 

‘Verdammt, schon wieder so eine Halluzination !’ war mein Gedanke. So legte ich mich halt nicht weit von der Laterne in einen Graben und ruhte mich aus. Irgendwann wurde ich wieder wach und schnupperte frische Morgenluft, die von dem ätzenden Uringeruch eines mich neugierig beschnupperten Hundes begleitet wurde. Wedelnd schleckte er mich ab, worauf ich dankend zurückschleckte. Kurz darauf stellte ich fest, dass die Morgenluft eigentlich Mittagsluft war, denn es war kurz vor vierzehn Uhr. Nach einer Schrecksekunde fasste ich mich wieder und ging unbeirrt zu meinem Arbeitsplatz, an dem mich ein unbefriedigter Chef empfing, weil ich ihn gerade beim Diktataufnehmen gestört hatte. 

Nachdem sich die aufreizende Sekretärin wieder zurecht gezupft hatte, ging ich erst einmal in den Aufenthaltsraum. 

Dort empfing mich Barney, der mir mitteilte, dass er gestern Nacht mit einem australischen Topmodel geschlafen hätte. Um seine Gefühle nicht zu verletzen, verschwieg ich ihm, dass sein Topmodel die Straßenlaterne war, an der wir uns übergeben hatten. Umgekehrt berichtete ich ihm von meiner Erscheinung, in die ich mich Hals über Kopf verliebt hatte. Irgendwann machten wir uns dann an die Arbeit und wurden kurz darauf von unserem Chef geweckt. Scheinbar waren wir über unseren Frauengeschichten im Aufenthaltsraum eingenickt. Er empfahl uns, beim nächsten Mal doch bitte Hosen anzuziehen, die den Begriff „neu“ irgendwann einmal gehört hatten und schloß sich daraufhin auf ein weiteres Diktat mit der aufreizenden Sekretärin ein.

„Verdammt!“ sagte ich zu Barney, meinem einzigen und besten Freund, „Barney, ich muss diese Frau wiedersehen! Aber wie soll ich das anstellen?“ Er rülpste kurz, was einen anwesenden Kollegen dazu brachte, kurz nach Luft zu schnappen, anschließend mit dem Kopf in sein Wirsing-Gemüse zu fallen und sanft zu entschlafen. Die Putzfrau würde ihn morgen finden, sich über die heutige Arbeitsmoral beklagen und ihn in die naheliegende Müllpresse werfen. Barney beantwortete meine Frage mit einem Satz, der unendlich schlauer war, als ich es in meinen kühnsten Träumen erwartet hätte. „Du willst sie wiedersehen? Denk doch mal nach, wie Du sie das erste Mal gesehen hast. Du warst betrunken. Also was musst Du tun? Dich wieder betrinken!“ 

Unglaublich! Dieser Mann zeigte eine geschärfte Logik, wenn Extremsituationen auftauchten. Ich erinnerte mich an die Sache mit der Dunkelkammer, als er den Tipp gab, doch einfach das Licht einzuschalten. Barney wurde unterschätzt, das wusste ich nun. Ich musste irgendetwas für ihn tun. Das naheliegendste war, ihn ihn auf ein Bier einzuladen. In unserer Stamm-Kneipe empfing man uns mit einer Liste im Bibel-Format, die sich als „Zech-Prell-Archiv“ herausstellte. Wir lenkten den cholerischen bayrischen Wirt ab und rannten, oder vielmehr stolperten aus dem Laden. Einige Passanten drehten sich verwundert nach den Schüssen um, die der Wirt aus seiner Schrotflinte auf uns abfeuerte, doch nahmen es eigentlich eher gelassen zur Kenntnis. Barney und ich waren nicht zum ersten Mal unterwegs.

Irgendwo, fünfzig oder sechzig Meter weiter, gerieten wir dann außer Puste und beratschlagten kurz, wo wir nun was zu trinken herkriegen könnten. Eine gute Idee schien uns der Park zu sein, in dem Jugendliche rumlümmelten und hart arbeitenden Männern wie Barney und mir auf der Tasche lagen. In einem Anfall von Großmut entschlossen wir uns, ihnen ihren Alkohol, den sie ja eh nicht trinken durften, abzunehmen und ihn an die Bedürftigen zu verschenken. Gesagt, getan. Wir wankten auf sie zu, lenkten sie kurz damit ab, dass wir sie auf ihre Akne aufmerksam machten und stolperten dann ins nächstliegende Gebüsch. Dort angekommen überlegten wir, wer denn nun die Bedürftigen wären, schauten uns kurz tief in die Augen und fingen herzlich an zu lachen. Nachdem wir dann das erbeutete Dosenbier getrunken hatten, kamen die Flaschen an die Reihe. Barney, ein wesentlich begabterer Flaschenöffner als ich, verlor dabei drei seiner Schneidezähne, versicherte mir aber relativ glaubhaft, dass sie zuvor eh schon gewackelt hatten. 

Voller Mitleid prostete ich ihm zu und wenn ich noch fähig zu irgendeiner Gefühlsregung gewesen wäre, hätte ich vielleicht sogar geweint. 

Ich schloss kurz die Augen und als ich sie wieder öffnete, war Barney mit einer neuen Bekanntschaft beschäftigt, die er für seine ehemalige Schul-Liebe hielt, für mich aber eher Ähnlichkeit mit einem Astloch hatte, aus dem ein neugieriges Eichhörnchen seinen Kopf streckte, um kurz darauf Opfer eines vorzeitigen Samenergusses zu werden. Barney schrie kurz auf und fiel dann in einen komatösen Schlaf. Nein, eigentlich fiel er nur ins Koma. Ich hingegen fiel wieder in Entzücken, denn zu meiner Linken befand sich plötzlich Angelina und lächelte mir liebreizend zu. Ich weiß nicht warum, aber ich musste plötzlich an ein Astloch denken. „Allllo!“ begrüßte ich sie freundlich und zwinkerte ihr lüstern zu. „Hallo, ich bin Angelina, Dein Schutzengel. Ich bin hier, um Dich vor den Gefahren Deines Alkoholkonsums zu warnen. Bald werden die Dinge verschwimmen und Du wirst sie doppelt sehen oder seltsame Halluzinationen haben. Denke immer daran, dass es gefährlich ist, in einem solchen Zustand Auto zu fahren oder eine wichtige Position inne zu haben.“ 

„Aprpo Possision. Wrum legssu Disch nischin?“ fragte ich sie freundlich. Entrüstet schüttelte sie ihren Goldkopf und dieses Lockenwunder brachte mein Blut zum Wallen. Und dies war nicht das Einzige, was pochte. He, nuschelte ich sie an, weißu eigentlich, dassu verdammt hüsch bibscht, hm?“  Sie verharrte kurz in ihrer lehrerhaften Position, überlegte wohl, was sie als nächstes sagen würde und lächelte dann kurz. Ha! Hatte ich wohl einen guten Punkt in ihr getroffen. Ich hoffte, es würde nicht der Einzige bleiben. Sa ma, was machtn Ihr Engelchen so den gansen Tag ? Wir sind Abgesandte Gottes, des Allmächtigen und sind damit beauftragt, verlorene Seelen auf den rechten Weg zu bringen, weil sie ihren eigenen verlassen haben. Und Deiner entwickelt sich extrem in eine Richtung, in der er nicht verlaufen sollte. Aber, aber, warf ich ein, isch habe einen festen Arbeitsplats, auf den den Boden anrülpsenden Barney zeigend, habe gute Freunde und auch sonst verdammd viel zu bieten...“  Hier stieß ich mit meiner Zunge von innen gegen meine rechte Wange, um anzudeuten, was es denn wäre, was ich zu bieten hatte. 

Sie senkte dermaßen kokett ihr liebreizendes Haupt, dass es mir beinahe die Hose sprengte. 

"Willst Du mit mir... gehn ?" stammelte ich, begleitet von ein wenig Geifer. "Da ich auserkoren wurde, Dir den Weg zu weisen, werde ich Dir selbstverständlich gerne Gesellschaft leisten", sprach's und begann, über dem Boden neben mir her zu schweben. Wir liefen ein wenig und unterhielten uns über ziemlich wichtige Dinge, wie mir schien. Jedoch redeten wir wohl aneinander vorbei, denn als wir an dem Hotel ankamen, von dem ich gesprochen hatte, schwebte sie einfach weiter. 

Wir kamen dann nach einem, zumindest für mich, harten Fußmarsch an meiner Wohnung an. Wow, das war wesentlich mehr, als ich erwartet hatte. "He, Schätzschen, Du gehs ja mal ran, Du..." zwinkerte ich ihr zu. "Wenn man beginnen will, in seinem Leben aufzuräumen, sollte man das am besten mit den Dingen tun, die einem am wichtigsten sind, oder an den Orten, an denen man sich am häufigsten aufhält." Ich wollte ihren Redefluss jetzt nicht damit unterbrechen, dass Barney und ich gerade vorhin von diesem häufig besuchten Ort mit einer Schrotflinte verjagt wurden, so sprach sie also weiter. "Bitte öffne diese Tür, lass mich hinein und ich sage Dir, wo wir beginnen." "Ja, Baby, mein Tor steht offen..." Dies entsprach sogar der Wahrheit, denn meine Tür stand offen. 

Ich wohnte in einem Viertel, wo man es mit Besitz nicht allzu genau nahm und eine lockere Nachbarschaft vorherrschte. Man ging in die Wohnung, die am nächsten war. Ging, wann man wollte, aß von einem Teller, der halbwegs gespült aussah und benutzte Toiletten noch gemeinsam. Nach einer Weile sah das eh alles gleich aus. Ja, und wenn doch mal jemand einen Fehler machte, so konnte man immer noch vom Notstandsrecht Gebrauch machen. So hatte es den Typ ziemlich übel erwischt, der in dem Haus, von dem nur noch der erste Teil der Nummer erhalten war, zwischen der dritten und vierten Etage auf der Fensterbank direkt neben dem Gummibaum mit den leicht gelblichen Blättern lag. 

Es war fast schon so etwas wie damals in den Sechzigern, als freie Liebe herrschte und jeder von Kommunen sprach. Mit der Melodie von "Eve of Destruction" auf den Lippen stieß ich die Tür auf. Wieder wurde ich an frühere Zeiten erinnert, als man ehrwürdige Bürger Gammler und Provos schimpfte. Nein, das waren wahrlich keine rosigen Zeiten für mich gewesen. Ständig von gut bürgerlichen Leuten bespuckt und beschimpft zu werden... ich konnte dies irgendwann nicht mehr aushalten, diesem Druck der spießbürgerlichen Welt mit ihren feinen Konventionen, denen man sich gefälligst zu unterwerfen hatte. 

Nein, ich hatte kein schönes Leben, ich war schon immer der Außenseiter, mit mir wollte noch niemals einer meiner Altersgenossen spielen. 

Tränen schossen mir in die Augen, als ich die Vergangenheit Revue passieren ließ und plötzlich bekam ich eine leise Ahnung davon, was mit mir schief gelaufen war, ich spürte plötzlich den Drang, verlorenen Träumen hinterher zu laufen, ich spürte urplötzlich die Desillusion, die mich irgendwann übermächtigt hatte, so dass ich keinerlei Chance zu meiner eigenen Rehabilitation hatte. Ich... ich... hatte plötzlich den Drang, mein Leben umkrempeln zu wollen. Weg mit meiner Hippie-Mentalität und her mit dem Erfolg! Ich wurde daran erinnert, dass es mehr gab, als in verlausten Wohnungen zu hausen, umgeben von stets schimpfenden Nachbarn. Ich wurde daran erinnert, dass ein Leben einen Sinn haben musste, wollte man nicht innerlich lange vor seinem körperlichen Verfall sterben. 

Und ich wurde daran erinnert, dass ich erst 1975 geboren wurde. Genauer betrachtet konnte es also gar nicht mein Leben gewesen sein, von dem ich gerade gesprochen hatte. Ja, ich erinnerte mich tatsächlch, dass dies die Geschichte des Typs aus dem Wohnwagen am Ende der Straße war, der seinen Hund immer mit Koteletts aus der naheliegenden Pferdemetzgerei fütterte. Ein ziemlich unsympathischer Kerl, der mal mit Stacheldraht nach mir geworfen hatte, weil ich ihn auf eine Wunde ansprach, die seine linke Wange zierte. Seiner tränentreibenden Antwort, er hätte sie sich in Vietnam redlich verdient, warf ich entgegen, dass er doch ein Deutscher war. Eigentlich konnte ich seine langen Haare noch nie ausstehen, ebenso wenig wie seine ungepflegte Kleidung, die schon ebenso viel Urin wie Staub abgekriegt hatte. Nein, ich mochte ihn nicht. Elender Provo. 

Nun waren wir also endgültig in meiner Wohnung angekommen und ich bat sie, doch bitte Platz zu nehmen. Tatsächlich tat sie das auch, schaute sich ein wenig um und schlug einladend die Beine übereinander. Dreist setzte ich mich neben sie und ich könnte verdammt noch mal schwören, dass sie mir ein Petzauge zuwarf. Sie würde zwar anschließend sagen, dass sie nur ganz normal gezwinkert hatte, doch - was wusste sie schon ? Also tat ich, wie wohl jeder Mann gehandelt hätte und machte den ersten richtigen Annäherungsversuch. Sanft, für meine Verhältnisse, umfassten meine Hände ihre wunderbar zarten Brüste und begannen sie zu massieren, was Angelina dazu brachte, zu erröten. Ach, Rot! Die Farbe der Liebe! Ich lechzte lüstern und führte sie in mein komfortables Bettchen, welches uns ungemacht und mit einigen Flecken versehen, erwartete. 

Tja, am nächsten Morgen war sie verschwunden und ich dachte schon, ich hätte ähnliche Bekanntschaften gemacht wie Barney, doch einige Zeit darauf fiel sie mir wieder vor die Füße, gerade als ich einmal mehr oder weniger sanft aus meiner Stammwirtschaft verjagt wurde. Sie schien mir nun weniger gepflegt als bei den ersten Begegnungen, doch da ich ein gutes Herz besaß, nahm ich sie wieder auf und es dauerte auch nicht lange und sie war mir total willig. Was hätte sie auch tun sollen, nachdem man sie aus dem Himmel gejagt hatte? Sie konnte ja wirklich froh sein, dass sie mich überhaupt kennen gelernt hatte, so hatte sie wenigstens jemanden, der sich ihrer annahm. Ich tat es auch gerne und das erste, was ich sie hieß, war meine Wohnung zu reinigen, dies musste endlich mal passieren. 

Ja, hatte sie nicht vor einiger Zeit damit geprahlt, mein Leben in den Griff kriegen zu wollen?

Na, das hatte sie jetzt davon. Wie es natürlich kommen musste, fing sie irgendwann an zu meckern und zu jammern; erzählte mir, wie schön ihr Engel-Leben doch gewesen war und fing an, mir Vorwürfe zu machen, ich hätte ihr Leben verpfuscht. „Schäschen“, lallte ich sie liebevoll an, „wennu wieder rauf wills... geh doch !“ Ich hatte irgendwann aufgehört, ihr zuzuhören, weil sie eh immer nur davon sprach, das sie mir doch helfen wollte und nur mein bestes und so weiter und so fort. Entgegnen konnte ich ihr ja immer noch mit dem Argument, dass sie ja gerade das Beste für mich machte, indem sie hier mal ordentlich durchwischte. So fand ich auch endlich meine Zahnbürste wieder. Auf jeden Fall meinte sie irgendetwas in der Art, das sie jetzt wohl ein gefallener Engel wäre und dergestalt nicht mehr dazu fähig, gen Himmel zu fahren. „Pesch“, meinte ich, „dann räum halt hier auf.“

Ja, Liebe ist schon etwas seltsames. Irgendwie bekommt man immer etwas anderes, als man es sich vorgestellt hat, oder ? Man macht sich Hoffnungen, malt sich Situationen aus, wiegelt hin, wiegelt her und was bleibt am Ende ? Etwas anderes. Ich zum Beispiel hatte mir das Schönste mit Angelina ausgerechnet. Ich wollte romantische Gelüste und jemanden an meiner Seite, der wusste, wo es langgeht und mich und ihn in die Hand nahm und mich mit weisen Entscheidungen in die richtige Richtung führte. 

Da stand sie nun, die Stimme meiner Vernunft. Schmutzige Haare, vergilbte Lockenwickler und halb verrauchte Zigaretten im Mundwinkel. 

Irgendwann hatte sie mal laut und deutlich zu mir gesprochen; da hatte ich noch an sie geglaubt. Da hatte sie noch was zu sagen und redete nicht ständig über vergangene Chancen und nie mehr wiederkehrende Gelegenheiten. Erbarmungslos und mit meiner Geduld spielend hatte sie versucht, mir zu helfen, doch hatte es nicht geschafft und nun war sie versucht, die ganze Schuld mir in die Schuhe zu schieben. Vorbei also die Zeiten, in denen sie wirklich noch etwas zu sagen hatte; als man noch auf sie gehört hätte, weil sie zu dieser Zeit noch Glaubwürdigkeit besaß. Damals konnte sie noch laute und deutliche Artikulationen von sich geben, nicht dieses teilweise Grunzen und Rülpsen, welches ihr nun meist entfuhr. Doch jetzt... nein, großartige Liebe konnte ich nicht mehr empfinden, als ich in diese verlebten Augen schaute, blutunterlaufen und rot wegen Schlafmangel. Immerhin konnte ich ihr zugute halten, dass ihre Alkoholfahne daher rührte, da ich sie vor einiger Zeit geküsst hatte. 

Ich konnte ihr nur noch bedauernd mit meiner Flasche Bier zuprosten.


(C) Stefan.Bohlander@gmx.de

Eine Geschichte von Stefan Bohlander

"Mist", dachte er, als er im Spiegel die Pilzkultur beobachtete, die sich immer weiter auf seinem Rücken ausbreitete. In seinem selbstgefälligen, kleinen Leben, das umgeben war von Schönheit, Geld und Macht war ihm so etwas noch nie passiert. Noch nie hatte ein Fremdkörper länger als zwei Tage an ihm gehaftet.

Das Längste war in seiner Jugend, als der erste Pickel seine Haut zierte. Damals war er noch unerfahren, kratzte ihn auf und der Saft floss munter aus seiner Umhüllung. Und da er, wie gesagt, unerfahren war, keine Ahnung hatte, was das war, wie es auf seine Haut kam und was es dort beabsichtigte und er unter seiner schönen, reichen und mächtigen Hülle geistig etwas labil war, nahm er kurzerhand seinen rechten Zeigefinger, ließ ihn über diesen weißen Saft laufen, wischte ihn ab und kostete davon. Der dadurch entstandene Fleck blieb fünf Tage lang an seinem Platz und flätzte sich in der Sonne.

Ansonsten waren es nur kurze Gastspiele auf seinem Körper. Aber das... Pilze... auf seinem Körper... Unverschämtheit... Seit acht Monaten, einer Woche und drei Tagen hatte er keinen Sex mehr gehabt - keinen richtigen... mit einer dieser strohdummen, silikongestopften Strandschönheiten, die mit Mühe und großer Not - aber immer süße lächelnd - ein lächerliches Abbild des Alphabets zusammenbrachten. Er wusste schon gar nicht mehr, wie man Sexh richtig schreibt. Er hatte sich ausgeschlossen von der Welt. Von dieser kalten, abweisenden Welt, die einen nur mochte, wenn man schön, reich und mächtig war.

Und dann war da noch dieser Geruch.

Als ob jemand vergessen hatte, die Tür zur Schweinepferch zu schließen und sich Tausende von mikroskopisch kleinen Aromawölkchen systematisch ausbreiteten und den gesamten Platz für sich beanspruchen wollten.

Und es wurde nicht besser...

Sein Hausmädchen war nur unter der Bedingung geblieben, dass sie ab dem nächsten ersten eine 200%ige Gehaltserhöhung erhielt. Da er Schwierigkeiten hatte, ein neues zu finden, willigte er widerwillig ein. Verständlich, denn wer arbeitet schon gerne für jemand, der aussieht wie ein Camembert? Auch bei mehreren Ärzten war er schon gewesen. Der einzige Erfolg, den er dadurch verbuchen konnte, war ein Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde, dank der meisten Überweisungen innerhalb eines Monats.

Nein, er war fertig, er wollte nicht mehr.

Seine Gliedmaßen fingen schon an, abzufallen; angefangen bei den Zehen, über die Füße bis hin zu seinen Ohren. Aus den zurückgebliebenen Stümpfen wuchsen Pilze, die sich schon langsam mit dem Boden verbanden. Die abgefallenen Glieder sammelte er und legte sie auf einen Haufen. Daraus wurde Humus. Guter Boden. Exzellenter Boden. So exzellent, dass die Pilze von seinem Körper sich mit ihm verbanden.

Zum Sammeln benutzte er seine Finger, die ihm noch verblieben waren.

Dieselben Finger, die er dazu benutzt hatte, seine Pistole aus der Schublade zu holen. Die jetzt zittrig den Lauf der Pistole in seinen geöffneten Mund bewegten.

Dann drückte er zittrig den Abzug und sackte kraftlos zusammen.

Und in diesem Augenblick, in diesem winzig kleinen Augenblick, der verging, während die Kugel sich durch den Hinterkopf bohrte, sich ihren Weg durch die Haare und die Pilze bahnte, die darauf wucherten, wusste er plötzlich, was die ganze Zeit so verschleiert vor seinem geistigen Auge hin- und hergeflattert war.

Er wusste, warum ihm dies passierte.

Er hatte in seinem Leben so viel Scheiße geredet und gemacht, dass einfach alles auf ihn abgeladen wurde. Pilze wuchsen bekanntlich gut auf Mist. Und bei so einem Scheißhaufen wie er es war, mußten die Pilze ja gut gedeihen. Und in diesem Augenblick musste er lauthals anfangen zu lachen. Irrationalerweise ein ziemlich befreiendes Lachen. Die ganze Zeit über war es so klar gewesen. Einfach weil er so ein Mistkerl war.

Und dann stutze er.

Warum konnte er eigentlich noch lachen, wenn er sich doch gerade die Kugel gegeben hatte ?

Er schaute hinter sich. Blut, klebrige Haare voller Blut, klebrige Pilze voller Blut und klebrige Gehirnstücke voller Blut waren da, wie erwartet.
Und trotzdem konnte er noch lachen.

Er sah, wie aus seinen Gehirnstücken Pilze wucherten.
Und trotzdem konnte er noch lachen.

Er sah, wie sich diese Pilze immer weiter vermehrten.
Und trotzdem konnte er noch lachen.

Es konnte sich nur um einen Traum handeln. Ein Traum, der niemals enden würde. Ein Traum, ein Albtraum, der daraus bestand, dass Pilze in seinem Haus wucherten, in seinem Auto, auf seiner Haushälterin, auf seinem Blu-Ray-Spieler, in seinem Inneren, in seinem Ich.

Und trotzdem konnte er noch lachen...





(C) Stefan.Bohlander@gmx.de